Dr. Seyran Bostancı: Ausschluss und Teilhabe in der frühkindlichen Erziehung und Bildung

Ausschluss und Teilhabe in der frühkindlichen Erziehung und Bildung

Zum vollständigen Fachpapier:  Seyran Bostanci - Eine gute Mischung


ML: Danke, Seyran, dass du dich zu diesem Interview bereit erklärt hast. Heute soll es um frühkindliche Bildung und Erziehung sowie um die Herausforderungen bei der Teilhabe migrantischer Eltern gehen. 40 % der Kinder im Kita-Alter haben heute eine Migrationsgeschichte. Sie sind ein grundlegender Teil der deutschen Bildungsgegen-wart und -zukunft. Was sind in dieser Hinsicht heute die größten Herausforderungen?

SB: Ja, 40 % der Kinder haben einen sogenannten Migrationshintergrund. Aber das ist in der Bundesrepublik nur der Durchschnitt. Das heißt, von Stadt zu Stadt und Land zu Land gibt es Varianzen. In bestimmten Ballungsgebieten, wie beispielsweise in Frankfurt, ist die Zahl sogar noch höher. Kitas müssen sich auf diese postmigrantische Realität einstellen. 

Statistiken zeigen, dass Kinder mit Migrationshintergrund einen erschwerten Zugang zu frühkindlicher Bildung haben. Das ist natürlich fatal, weil Bildungschancen dadurch quasi schon im frühen Alter minimiert werden und es keinen gerechten Bildungszugang gibt. Damit werden die Potenziale dieser Kinder zum Teil verschenkt, und das ist tatsächlich das, was ich als eine der größten Herausforderungen und Hürden beobachten kann. 

Wir haben einen Kitaplatzmangel und einen Fachkräftemangel. Ein erschwerter Zugang betrifft so gesehen erst einmal viele Familien, aber Statistiken zeigen eben, dass vor allem rassifizierte Kinder noch einmal größere Hürden im Kita-Zugang erleben.

ML: Du hast bereits 2022 an einer Pilotstudie zum Umgang mit institutionellem Rassismus in Berliner Kitas mitgewirkt. Da ging es unter anderem um die Repräsentation von Kindern mit Migrationsgeschichte in Bildungsmaterialien. Hast du das Gefühl, dass hier ein Umdenken stattfindet?

SB: Wir haben im frühkindlichen Bildungskontext sehr wenige empirische Erkenntnisse, wie der Umgang mit Vielfalt in Kitas eigentlich ist und ob sie sich auf die postmigrantische Gesellschaft eingestellt haben. Ich bin als Fortbildnerin in vielen Kitas und beobachte in meinen empirischen Studien Lernumgebungen. In den Bildungsmaterialien, zum Beispiel den Büchern, die den Kindern vorgelesen werden, entspricht das Bild von Vielfalt tatsächlich zum Teil nicht der Realität, sondern eher Stereotypen. Das macht etwas mit der Identitätsentwicklung von Kindern und mit Bildungsprozessen. 

Wenn Kinder durch die Lernumgebung immer wieder die Botschaft erhalten „So wie du bist, bist du nicht richtig, bist du nicht die Norm, bist du irgendwie anders“, hat das unmittelbare Auswirkungen auf ihre Identität und ihr Wohlbefinden. Das wissen wir aus der Lerntheorie. Wohlbefinden und Zugehörigkeit sind wichtige Faktoren dafür, im Hier und Jetzt zu sein und sich auf Bildungsprozesse einzulassen.
„Sie sind ja bildungsfern“: Rassismus als Legitimationslegende

ML: Es sind jetzt mehrmals Begriffe wie Rassismus und Diskriminierung gefallen. Was ist für dich institutionelle Diskriminierung und wie unterscheidet sie sich von anderen Diskriminierungsformen?

 

SB: Tatsächlich gibt es in Deutschland – oder überhaupt in der Wissenschaft – keine einheitliche Definition von Rassismus. Das Besondere im deutschen Kontext ist, dass Rassismus oft als ein Phänomen am rechten Rand aufgefasst wird. Ich begreife Rassismus dagegen als eine gesellschaftliche Struktur, die sich in Alltagsphänomenen, Diskursen, Narrativen und Funktionsweisen von Organisationen zeigt. Sie führt dazu, dass rassifizierte soziale Gruppen sich größeren Hürden im Zugang zu gesellschaftlich relevanten Gütern wie Bildung, Gesundheit, Wohnen oder Arbeit gegenübersehen und dementsprechend benachteiligt sind. 



Institutioneller Rassismus beschreibt also die Verfahrensweisen und Routinen, die innerhalb einer Organisation normal erscheinen, aber rassistische Benachteiligung als Effekt haben. Das Besondere am Rassismus ist, dass er oft nicht als Alltagsphänomen, wie beispielsweise beim Thema Sexismus, betrachtet wird. 

Wir begreifen uns oft als aufgeklärt und schreiben uns Menschenrechte auf die Fahne. Um bestehende soziale Ungleichheiten zu rechtfertigen, greifen wir dann auf rassistisches Wissen zurück. Rommelspacher nennt Rassismus eine Legitimationslegende. Das heißt, rassistische Stereotype erklären und legitimieren Ungleichbehandlungen. Es wird gesagt: „Sie sind ja bildungsfern und deswegen schneiden sie schlechter ab.“

ML: Eltern haben in Deutschland das Recht auf Teilhabe am Kitaalltag. Hast du bereits Erfahrungen mit migrantischer Elternbeteiligung in Kitas gemacht?

SB: Im Schulbereich kann man sehen, dass die Elternbeteiligung von Eltern mit Migrationshintergrund im Vergleich niedrig ist, und das gleiche Phänomen sehen wir auch in Kitas. Was ich in der Praxis beobachten kann, ist, dass Kitas, die einen diversitätsbewussten, diskriminierungskritischen Organisationsentwicklungsprozess haben, bessere Ergebnisse in der Zusammenarbeit mit Familien mit Migrationsgeschichte verzeichnen. Deren Elternabende sind stärker besucht. In anderen Kitas bleiben diese Familien eher fern. 

Das sind keine empirischen Ergebnisse, sondern meine Beobachtungen aus der Praxis. Dass wir dahingehend gar keine empirischen Studien haben, ist fatal. Trotzdem können wir annehmen, dass institutionelle Diskriminierung und fehlender Raum für Rassismus- und Diskriminierungskritik dazu führen, dass Eltern sich nicht wohlfühlen und weniger beteiligen. Als ich mit rassifizierten Familien darüber gesprochen habe, wie sie mit den Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen in der Kita umgehen, nannten sie ein fehlendes Beschwerdemanagement als Argument dafür, dass sie sich nicht mit ihren Themen und Anliegen wohlfühlen. Und das kann natürlich dazu führen, dass sie den Räumen fernbleiben. 

Aus anderen Studien wissen wir auch, dass die Kompetenzen von Familien mit Migrationshintergrund von den pädagogischen Fachkräften defizitär betrachtet und abgewertet werden. Das schafft eine Kultur, in der sich diese Familien logischerweise nicht gesehen und nicht gehört fühlen und vielleicht auch nicht das Selbstbewusstsein haben, ihre Themen einzubringen.

ML: In einer Studie von 2022 hast du darauf verwiesen, dass einige Eltern mit überholten und vorurteilsbehafteten Wissensbeständen konfrontiert sind. Bei muslimischen Müttern gingen Fachkräfte davon aus, sie würden nicht arbeiten. Söhne, die in der Kita nicht abräumen wollten, warf man vor, es läge an ihrer Religion. Was sind die Folgen von solchen Begegnungen?

SB: In meinen Studien arbeite ich oft mit Adultismus in Intersektion mit Rassismus als theoretischer Grundlage. Adultismus ist eine Diskriminierungsform, die von Erwachsenen gegenüber Kindern ausgeübt wird, auf machtvollen Interaktionen basiert und dazu führt, dass Kinder bereits im jungen Alter Dominanzverhältnisse internalisieren. Dass Situationen, wie die du gerade genannt hast, verharmlost werden, ist auch Teil einer adultistischen Logik. Die Rassismuserfahrungen von Kindern werden nicht gesehen. Man begegnet ihnen mit Sätzen wie: „Wenn du groß bist, wirst du es vergessen.“ Im Kontext von Rassismus führt das dazu, dass rassistische Diskriminierung im Kindesalter ausgeblendet wird. 

Die Geschlechterverhältnisse sind dagegen auch ein Produkt patriarchaler Strukturen. Das sieht man daran, dass vor allem Frauen im Kita-Beruf tätig sind und daran, wie diese in unserer Gesellschaft (kaum) wertgeschätzt und schlecht honoriert werden. Wenn pädagogische Fachkräfte Einladungen zum Elternabend aussprechen oder die Windeln fehlen, adressieren sie vermehrt Mütter. In der Intersektion mit Rassismus hat das eigene Auswirkungen. Rassifizierte Männer werden als gewaltbereit und desinteressiert wahrgenommen. All diese Dynamiken beeinflussen, wie Kita funktioniert und Familienmitglieder adressiert oder nicht adressiert, bewertet oder abgewertet werden.

ML: Was muss geschehen? 

SB: Einrichtungen müssen sich auf die postmigrantische Lebensrealität einstellen, die Potenziale von Kindern mit Migrationsgeschichte nicht konterkarieren und ihre Mehrsprachigkeit wertschätzen. Um das zu einem Bestandteil von Bildungsprozessen zu machen, braucht es diskriminierungskritische und diversitätsbewusste Organisationsentwicklungsprozesse, im Rahmen derer sich alle, die in einer Kita tätig sind, auf einen Reflexionsprozess begeben und institutionelle Maßnahmen ergreifen, um dieser Vielfalt diversitätsbewusst und diskriminierungskritisch gerecht zu werden. Hierzu braucht es institutionalisierte Lernräume, die auch von Fehlerfreundlichkeit geprägt sind. 

Wir alle tragen Rassismus in uns. Wir alle sind in rassistischen Verhältnissen sozialisiert. In Lernräumen können wir aktiv dieses rassistische Wissen verlernen und Rassismus als gesellschaftliches Verhältnis begreifen, ohne in Gut und Böse zu unterteilen. Dazu müssen wir eine Vertrauensbasis schaffen, auf welcher Menschen überhaupt erst zur Selbstreflexion kommen. Nur durch Selbstreflexion können wir Rassismus erkennen und verhindern. Wir müssen Lernumgebungen analysieren und uns fragen: Was für Material haben wir eigentlich da? Finden sich alle Kinder in der Einrichtung darin wieder? Werden sie in ihren Identitäten widergespiegelt? Fühlen sich alle Kinder hier zugehörig? Fühlen sich alle Kinder wohl? Und wenn nicht, was müssen wir tun, damit das gewährleistet ist? 

Aktuell fehlt selbst den Behörden, die für diese Fragen im Kita-Bereich zuständig sind, das nötige Know-how. Oft werden Maßnahmen der interkulturellen Pädagogik empfohlen. Diskriminierungskritik wird damit aber nicht vorangebracht. Tatsächlich würde ich da auch eine stärkere Kooperation mit Jugendämtern und der Kitaaufsicht sowie Beratungsstellen für Anti-Diskriminierung empfehlen.