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Mamad Mohamad, Geschäftsführer bei LAMSA e.V., im Interview mit Dr. Zeynep Sezgin Radandt und Mohamed Lamrabet
Zum vollständigen Fachpapier geht es hier: Migrantische Elternbeteiligung in Ostdeutschland
ZSR: Vielen Dank, Mamad, dass du dich zu diesem Interview bereit erklärt hast. Bildung und Teilhabe werden in Deutschland auch weiterhin vor allem aus einer westdeutschen Perspektive gedacht. Einige Herausforderungen sind ähnlich, andere sehr unterschiedlich. Wie siehst du das Verhältnis?
MM: Ende 2014/15 hatten gerade 1,9 % der Menschen in Ostdeutschland eine Migrationsgeschichte. Das bedeutet, im Osten ist Deutschland ein Zuweisungs- und kein Einwanderungsland. Eine seit Generationen etablierte migrantische Zivilgesellschaft existiert nicht. Viele Menschen bleiben hier maximal zehn Jahre und wandern dann weiter.
Ukrainer*innen sind zum Beispiel heute die größte migrantische Gruppe in Sachsen-Anhalt. Es brauchte nur einen kleineren Einwanderungsmoment, um die Migrationsbewegung im Land ganz schnell zu verändern.
ML: Es gibt Studien, in denen Ostdeutschland hinsichtlich Teilhabe besser abschneidet als Westdeutschland (SVR-Studie). Was ist dafür die Ursache?
MM: Der große Vorteil ist, dass wir ein gut ausgebautes Kitasystem haben. Das ist traditionell so und auch schon vor der Wende entstanden. Hier war schon lange das Thema: Wie überzeugt man Familien, ihre Kinder in Kitas zu schicken? Gerade bieten wir im Rahmen des Projektes „Mitreden“ Sprachkurse im Übergang von der Kita zur Schule an, weil bestehende Rückstände später oft nicht mehr aufzuholen sind.
Was aber die Situation verschärft, ist der Übergang an Gymnasien oder andere weiterführende Schulen. Der Stein, den wir ins Rollen bringen, kommt nicht unbedingt an. Da fehlen auch Menschen, die von Anfang an eine Vorbildfunktion haben, wie z. B. Lehrkräfte und Schulpersonal. Die Kinder erleben so nicht das Gefühl: „Ach, die Frau Mohamad ist Lehrerin, das kann ich auch!“
ML: Wie würdest du die Situation von Elterngremien einschätzen?
MM: An Schwerpunktschulen, an denen 40 % oder 50 % der Kinder eine Migrationsgeschichte haben, spiegelt sich das heute nicht in den Elterngremien wider. Ich bin im Elternbeirat der Schule meines Kindes und habe auch klassisch in der Kita angefangen. Aber im Grunde ist es so, dass die Menschen wenig Erfahrung damit haben.
Wenn es zur Wahl kommt, wird meist nach rechts und nach links geguckt und gesagt: „Die Frau Müller hat das immer schon gemacht, sie kann doch weitermachen.“ Ich boxe mich dann immer rein und sage: „Ich will auch kandidieren!“ Am Ende muss man diesen Schritt einfach tun.
ZSR: Was sind für dich die zentralen Unterschiede zwischen Migrantenorganisationen in Ost- und Westdeutschland?
MM: Wenn wir uns in Ostdeutschland unsere Wirkung angucken – obwohl wir zahlenmäßig wenige sind – ist diese teilweise sogar größer als in Westdeutschland. Dass wir als LAMSA ein bundesweit großer Träger aus einem kleinen Bundesland sind, zeigt das auch. Gleichzeitig sind viele junge Leute, z. B. vietnamesische Kinder, über die Jahre alle weggezogen. Die Kinder eines meiner Freunde aus dem Senegal gingen nach London und nach Paris. Die kommen nicht wieder. Aber diese Kinder brauchst du.
ZSR: Sind die Hürden so groß, dass gerade junge Menschen ihre Perspektive woanders suchen?
MM: Ja, aber es liegt auch an der Diskriminierungserfahrung. Meine Tochter, die 15 Jahre alt ist, Kurdin und auch Hallenserin, erlebt das immer wieder. Sie wird gefragt, ob sie Deutsch sprechen kann, warum sie Schweinefleisch isst, obwohl sie Mohamad heißt, und so weiter. Das nervt irgendwann. Auch die Gewaltzahlen sind hier wichtig: Jemand, der wie ich in Sachsen-Anhalt lebt, ist 28-mal mehr durch Gewalttaten gefährdet als eine Person in NRW. Das ist schon heftig.
ML: Bei migrantischen Menschen und Herkunftsdeutschen in Ostdeutschland handelt es sich um zwei Formen von innerdeutschen Gegenidentitäten. Birgt das auch Potenziale?
MM: Große Teile der Verwaltung und der Ministerien in Ostdeutschland sind mit Westdeutschen besetzt. Wenn es darum geht, sich auf ein neues System einlassen zu müssen, haben Ostdeutsche und Migrant*innen natürlich vieles gemeinsam. Manchmal sage ich auch, dass wir mehr Gemeinsamkeiten haben, als wir denken.
Am Ende ist die Frage eine nach der Dominanzgesellschaft. Wir haben hier Menschen, die nicht wählen dürfen und keine Teilhabezugänge haben. Diejenigen, die wahlberechtigt sind, haben kaum Gestaltungsspielraum, weil sie nicht in die Strukturen gelangen. Teilweise werden sie nicht einmal zu Vorstellungsgesprächen eingeladen.
Das Potenzial liegt jedoch darin, dass wir community-übergreifend und für die gemeinsame Sache arbeiten und kämpfen können. Es gibt keine Klientelinteressen. Gemeinsam arbeiten wir an besseren Bildungschancen für alle Eltern und ihre Kinder.
ZSR: Vielen Dank, Mamad, für deine Zeit!